Sascha, 43: „Alles nur Materie“

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Ich merke zunehmend, wie ich die Lust verliere, mich an politischen Debatten zu beteiligen.

Als europäischer, privilegierter (mittelalter) weißer Cis-Mann ohne Behinderung habe ich ein Label, das mich entweder von vornherein verdächtig macht, genau aus dieser Perspektive heraus zu argumentieren, oder durch fehlende Diskriminierungserfahrungen zu wenig Expertise mitzubringen, um angemessen mitdiskutieren zu können. Und selbst wenn ich sage, okay, dann halte ich mich lieber raus, „verliere“ ich, weil es ein Privileg ist, sich von politischer Verantwortung freizumachen, vor allem in demokratischen Gesellschaften.

Gibt es nur noch radikale Splittergruppen?

An dieser Stelle beginnt meine Frustration. Es scheint, als bestünde unsere Gesellschaft nur noch aus radikalen Splittergruppen, die in maximaler Vereinzelung um gesellschaftliche Anerkennung oder um die Deutungshoheit kämpfen. Wo soll das hinführen? Welche gemeinsame Vision eines gesunden, friedlichen Zusammenlebens soll sich daraus entwickeln? Wie sollen unter diesen Voraussetzungen die dringlichsten Menschheitsprobleme vom Klimawandel bis zur sozialen Ungleichheit gelöst werden?

Ich weiß es nicht und das frustriert mich noch mehr. Hätte ich keine Kinder, keine Familie und keine guten Freundschaften, dann würde sich ein ungezügelter Menschenhass in mir ausbreiten, der die Auslöschung aller Menschen begrüßen würde. Und zwar unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Alter, sexuellen Orientierungen oder religiösen Ansichten. Es wären mir einfach alle Menschen gleichermaßen scheißegal. Und jedes Mittel wäre mir Recht. Aber so ist es nunmal nicht.

„Es ist der Versuch, mich von jeglichem Wahnsinn zu entgrenzen“

In letzter Zeit reagiere ich auf bestimmte Probleme mit einer Art Mantra: „Alles nur Materie“! Es ist der Versuch, mich von jeglichem Wahnsinn zu entgrenzen, indem ich Alles gedanklich in Atome zerlege. Es hat etwas Versöhnliches, zu wissen, dass Alles irgendwann wieder in seine Einzelteile zerfällt und daraus einfach Neues entsteht. Kein Atom kommt dazu, keins fehlt. Alles ist Irgendwas. Und Irgendwas ist immer. Dieses universelle Gedankenexperiment könnte als Gleichgültigkeit ausgelegt werden. Das Gegenteil ist aber der Fall. Alles ist miteinander verbunden und alles ist voneinander abhängig.

Selbstschutz statt toxische Diskussionen

Dieses Mindset würde ich der Menschheit gern aufdrücken, aber ich bleibe realistisch, auch, weil ich mich nicht dem Verdacht aussetzen möchte, ein esoterischer Spinner zu sein. Auch so ein Label. Aber hey, ich bin nicht das einzige Lebewesen, das mit knapp 1600 km/h jeden Tag und jede Nacht auf der Erde Karussell fährt, während sich das verdammte Universum unaufhörlich ausdehnt. Vielleicht vertragen das einige Menschen einfach nicht so gut. Das würde Vieles erklären, löst aber meinen Frust nicht ganz.

„Allein meine bloße Existenz ist Angriffsfläche genug.“

Solange ich als Mensch in dieser Gesellschaft materialisiert bin, versuche ich es mit Selbstschutz. Ich meide toxische Diskussionen, vor allem in sozialen Medien, bemühe mich um gute Beziehungen, ich arbeite, ich helfe, ich liebe, bin kreativ, versuche, mich weiter zu entwickeln. Und ja, das fällt mir vergleichsweise leicht, weil ich hochgradig privilegiert bin. Weil ich keinen akuten Hunger erleide, weil keine Bomben auf mich niederregnen, weil ich nicht gefoltert oder ernsthaft diskriminiert werde, weil ich einfach riesiges Glück hatte und habe.

Und so stehe ich wie ein privilegierter Idiot zwischen diversen Frontlinien und versuche, ein paar vorsichtige Schritte zu gehen, im Wissen, dass überall Minen versteckt sind, die mich jederzeit zerfetzen könnten. Allein meine bloße Existenz ist Angriffsfläche genug. Allein so ein Text reicht aus. Und schon kreisen meine Ängste und Gedanken wieder. Alles nur Materie. Alles nur Materie. Alles nur Materie.

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