„Du bereust zu viel!“

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Hör auf zu bereuen! Lerne und sammle neue Erfahrungen. Es muss gar nicht schwer sein.

Der magische Realismus lässt mich seit einiger Zeit nicht mehr los. In Bildern oder Büchern dieses Stils weben die Urheber übernatürliche Erscheinungen in ihre Werke ein. Die Charaktere nehmen diese aber wie selbstverständlich wahr. Eine tolle Form, von Malern wie Salvador Dali oder Frida Kahlo geprägt, filmisch umgesetzt in Werken wie „Pans Labyrinth“ oder auch in Büchern wie „Hundert Jahre Einsamkeit“ von Gabriel Garcia Marques. Auch Günther Grass’ „Blechtrommel“ zählt dazu.

Und jetzt kommt’s: Ich habe nur wenig Ahnung von Malerei und Literatur, war in der Schule eine Niete in Kunst oder Deutsch, mal ganz abgesehen von vielen anderen Fächern wie eigentlich allen Naturwissenschaften oder Musik. Von Französisch weiß ich nur noch, dass ich es fünf Jahre lang als Schulfach hatte. Über meine Bildungslücken habe ich mich jahrelang geärgert, vielen Dingen hinterhergetrauert.

Einem älteren Freund, der fließend Spanisch spricht, vertraute ich einmal an: „Ich bereue es echt, dass ich nicht mal ein Instrument oder eine weitere Fremdsprache gelernt habe“.

Seine Antwort? „Du bereust zu viel!“

Etwa zehn Jahre später schreibe ich diese Zeilen. Im Studium hatte man mir Physik aufgezwungen und ich hab’s irgendwie geschafft, fand es auch plötzlich gar nicht mehr so schwer oder uninteressant.

Die Grundlagen Chemie beherrsche ich heute, Kunstausstellungen besuche ich manchmal aus Interesse, ich habe mir das Ukulelespielen selbst beigebracht, beherrsche ein paar Dutzend Akkorde und einige Songs.

Seit ein paar Jahren lerne ich Niederländisch und kann es inzwischen immerhin so gut, dass ich mit einem Niederländer, der langsam spricht, smalltalken könnte. Sobald ich das noch etwas verbessert habe, würde ich gerne Französisch noch einmal wieder aufgreifen und endlich Spanisch lernen.

Eine Frage der Einstellung

Was hat sich zwischen damals und heute verändert? Ein wenig schlicht das Mindset. Lernen kann heute eigentlich ganz einfach sein, das wurde mir irgendwann klar. Viel entspannter und schöner als in der Schule, wo immer dieser Druck herrschte. Einige Online-Lernprogramme wie Duolingo haben das Sprach-, Mathe- und Musiklernen gamifiziert.

Um endlich mal ein wenig Chemie zu verstehen, habe ich mir vor einiger Zeit einfach das Buch „Chemie für Dummies“ gekauft und es ein paar Wochen lang durchgearbeitet. Ich muss es nicht so genau verstehen, dass ich ganze Formeln berechnen oder Klassenarbeiten schreiben könnte. Aber warum selbst Plastik zu organischen Stoffen gezählt wird, warum Sauerstoff ein aggressives Gas ist und wie dieses olle Periodensystem funktioniert, das weiß ich jetzt.

Bei Literatur half mir ein ähnliches Buch, das ich über die Jahreswende studierte. Magischer Realismus – ich sag es nur.

Es gibt noch viel mehr Dinge, die ich bereuen könnte. Damals den einen Mentorenposten im Studium nicht angenommen zu haben, mit dem ich – wahrscheinlich – viele tolle Menschen kennengelernt hätte. Das eine Jobangebot abzusagen, und das andere dafür anzunehmen und mich zwei Jahre lang für ein lächerliches Gehalt völlig ausnehmen zu lassen, während sich mein Chef hinter meinem Rücken kaputtlachte. Die Nachbarin, für die ich heimlich schwärmte, nicht einfach mal auf einen Kaffee eingeladen zu haben. Wie wäre es dann wohl weiter gegangen?

Dankbar für schlechte Erfahrungen

Nun, vielleicht wäre trotzdem nichts aus uns geworden, oder ich wäre jetzt verheiratet und hätte zwei Kinder. Hätte mich das mit heutiger Sicht auf die Dinge glücklicher gemacht, als ich heute bin? Ich denke nicht. Mittlerweile bin ich sogar über die meisten schlechten Erfahrungen in meinem Leben dankbar, weil ich inzwischen weiß: Aus ihnen habe ich am meisten gelernt.

Um endlich aufzuwachen, brauchte ich dann aber doch einen A*tritt. Er traf mich zu einer Zeit, in der ich völlig überarbeitet war, mir beruflich kaum noch etwas zutraute, und er kam von einem früheren Mitschüler, den ich nach Jahrzehnten wiedertraf.

Er hatte damals mit Ach und Krach das Abi geschafft. Vor allem Mathe konnte er einfach nicht. Und nun offenbarte er mir: „Joa, als ich dann meinen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften hatte, bin ich ins Management gegangen, 60-Stunden-Woche und so. Zum Ausgleich (sic!) habe ich dann noch Wirtschaftspsychologie, Sportwissenschaften und Wirtschaftsrecht studiert.“ Mir fielen die Augen aus dem Kopf: „DU?!“ – „Ja“, sagte er. „DUUU?!“, rief ich – „Ja“, nickte er ruhig.

Das ging noch gefühlte zehn Minuten so weiter. Dann wurde mir klar: Du musst auch noch etwas tun. Nein, du kannst und du willst sogar.

Noch am gleichen Tag hatte ich die ersten Niederländisch-Lektionen auf DuoLingo absolviert. Die Ukulele spielte ich fortan regelmäßig, kaufte mir bald Bücher über Wirtschaft, Technik, Flirten (!), bald auch Literatur, begann zu lesen.

Es muss nicht gleich ein Studienabschluss sein. Aber lernen können wir auch in unserem und noch viel höherem Alter problemlos. Ja, sogar besser als in der Schule mit ihrer komischen Drucksituation und dem geschwollenen Lehrmaterial.

Neue Erfahrungen sammeln? Jederzeit möglich! Und dann kann Lernen sogar Spaß machen, weit mehr als all die Dinge zu bereuen, die wir damals eben nicht gemacht haben.

Jürgen Vielmeier

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